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DR. CHRISTIAN DRIES (PHILOSOPH, UNIVERSITÄT FREIBURG): „DIE ANTIQUIERTHEIT DES MENSCHEN“

INTERDISZIPLINÄRE LÖSUNGSANSÄTZE

Dr. Christian Dries (geb. 1976) ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Zu seinen thematischen Schwerpunkten zählen Sozialphilosophie und Anthropologie, Kultursoziologie und Modernisierungstheorie sowie die deutsche Nachkriegsgeschichte. Als Mitherausgeber ist er für die Einführungsreihe „Basiswissen Soziologie“ (UTB) verantwortlich.

Christian Dries studierte Philosophie, Psychologie, Soziologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Er ist Preisträger des Deutschen Studienpreises 2003 und 2007 und des Heureka-Journalistenpreises 2005. Seine Dissertation „Die Welt als Verbnichtungslager. Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas“ schloss er 2010 ab.

„Von der Antiquiertheit des Menschen zur Ethik der Kontingenz. Günther Anders als Denker der Gegenwart.“

„Günther Anders sollte der Philosoph der Stunde sein“. So plädierte Ludger Lütkehaus kurz nach der Reaktorhavarie von Fukushima im Frühjahr 2011. Was sagt uns dieser Günther Anders … hat er (die) Antworten auf die ökologisch-soziale Krise unserer Zeit?

„Was heute ebenso fällig ist wie die Veränderung der Welt, ist die wirkliche Interpretation jener Veränderungen …“, sagt Anders und meint die Technik und das, was sie mit uns macht. Neben der These zur modernen Technik gibt Anders uns noch eine andere, sie betrifft die moderne Form des Arbeitens und Konsumierens und damit verbunden die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Moral. Beide Thesen werden nun vorgestellt.

Es war der Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima und damit die Möglichkeit zur Vernichtung der Menschheit auf Knopfdruck, den Günther Anders als vorläufigen Höhepunkt einer technologischen Entwicklung sah, an deren Anfang der überflüssige, der antiquierte, der weltlose Mensch steht und an deren Endpunkt die menschenlose Welt. Der Startpunkt? Die Erfindung der Maschine. Verursacht durch die Industrialisierung beginnt „unsere Unfähigkeit, seelisch up-to-date auf dem Laufenden unserer Produkte zu bleiben, also in dem Verwandlungstempo (unserer Produkte) … mitzulaufen und die … uns entlaufenen Geräte einzuholen“ (G. Anders).

Hatte Immanuel Kant noch beklagt, dass „die Bedürfnisse schneller wachsen als die Mittel, sie zu befriedigen“, so sagt Günther Anders, dass es heute andersherum ist, dass es heute also die Mittel sind, die zum moralischen Problem geworden sind – weil sie so zahlreich und komplex sind und wir ihner nicht mehr Herr werden. Im Zeitalter permanenter technologischer Revolutionen hat sich der Abstand zwischen den Menschen und ihren Produkten dramatisch vergrößert. Anders bezeichnet dies als „prometheisches Gefälle“.

Das Problem dabei ist, dass sich die Technik und ihre Verwendung so fundamental geändert haben. Moderne Technik ist meist Großtechnik, mit den entsprechenden Verwendungsrisiken. Dadurch entstehen zwangsläufig Mensch-Technik-Netzwerke, in denen die Technik ihre jeweiligen Umwelten nach den eigenen Funktions- und Leistungsprinzipien und Risiken strukturiert. So ist die soziale Welt nach Anders nicht mehr allein von Menschen bevölkert, sondern regelrecht besetzt von Geräten, Maschinen und technischen wie bürokratischen Apparaten. Es ist die Welt der Technik, die zum politischen Subjekt wird – der Mensch selbst wird überflüssiger. Am Ende regiert immer nur die Technik.

Dieser technologische Expansionsdrang koaliert nach Anders prächtig mit der herrschenden Wirtschaftsontologie, für die nur zählt, was ökonomisch verwertbar ist. Homo faber und Homo oeconomicus sehen in der Welt vor allem Material und schaffen eine von Verwertungsimperativen, Apparaten und ihren Leistungsprinzipien dominierte Gesellschaft. Und damit diese ökonomisch funktioniert, hat sie mit Hilfe der Werbeindustrie eine Welt rigider (Kauf-)Gebote geschaffen, in der jede Form des Nichtkonsums als Sabotageakt gilt. Derart eingeklemmt zwischen technokratischem Dirigat und konsumistischer Anrufung verschwindet der Gestaltungsspielraum von uns einzelnen Menschen immer weiter.

Aber auch in der Arbeit ist es mit der menschlichen Autonomie nicht mehr weit her. Unter den Bedingungen hochgradig rationalisierter und maschinisierter Arbeitsorganisation verkümmern unsere Tätigkeiten zu einer Art Mit-Funktionieren. Da wir zudem nur noch einen Bruchteil der Produktions-/Dienstleistungskette überschauen, können wir uns kaum noch vorstellen, was wir eigentlich herstellen bzw. was alles damit zusammenhängt. Das prometheische Gefälle weitet sich nun auch noch auf den Herstellungsvorgang aus. Und auf den Konsum. Wer weiß denn schon genau, was er konsumiert.

Auf der modernen Arbeitsorganisation liegt denn auch ein Hauptaugenmerk der Gesellschaftskritik von Anders: Wenn Ziel und Zweck unserer Arbeit oft nicht mehr konkret sichtbar sind, benötigen wir auch kein moralisches Gewissen mehr – Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit genügt vollauf. Unsere Handlungen werden durch Umetikettierung in Arbeit moralisch neutralisiert – Arbeit stinkt nicht. Das bedeutet aber, dass autonomes, moralisches Handeln systematisch zerstört wird. Und aus Arbeitsteilung auch eine Gewissensteilung wird: Die Idee der Moralität einer Handlung wird im modernen Produktionssystem durch die Reibungslosigkeit der Organisation und den funktionalen Ablauf der Produktion ersetzt. Das prometheische Gefälle zwischen Vorstellen und Herstellen erweist sich als strukturelles Moment des Arbeitsprozesses. Hierzu ein Zitat eines Angestellten eines multinationalen Konzerns: „Die Gesellschaft wird unmenschlicher. Networking, Marketing … das sind supermächtige Werkzeuge – aber welche Absicht steckt dahinter? Wir sind Opfer dessen, was wir erschaffen haben.“

So verstanden sich – geht man in der Historie wieder zurück – auch die Angestellten von Auschwitz als eine Art Maschinenteile, die ihre eigene Legitimation aus Befehlen, aus dem Funktionieren des Apparats, seinen Regelwerken und Abläufen bezogen; weil sie, mit Spezialaufgaben betraut, Ausmaß und Endeffekt ihres Tuns kaum zu übersehen vermochten: „Der Angestellte im Vernichtungslager hat nicht gehandelt, sondern, so gräßlich es klingt, er hat gearbeitet.“ (G. Anders)

Nach Anders haben sich diese Arbeitsbedingungen durch fortschreitende Automation und Rationalisierung heute sogar noch verschärft, sodass sich ähnliche Verbrechen durchaus wiederholen können: „Je schärfer das Tempo des Fortschritts, je größer die Effekte unserer Produktion und je verwickelter die Struktur unserer Apparate – um so rapider verlieren unsere Vorstellung und unsere Wahrnehmung ihre Kraft, Schritt zu halten.“

Bei dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sieht Anders durchaus ähnliche Mechanismen der „Legitimation“ bzw. Aufteilung und des Abbaus der moralischen Verantwortung. So betroffen Anders von der Unmittelbarkeit und Brutalität der Verbrechen von Auschwitz war, so sieht er hier noch etwas Schlimmeres. Denn hier hatte ein anonymer, vom Apparat befohlener Handgriff ausgereicht, um schlagartig Hunderttausende zu vernichten, und damit auch alle bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken: „Wir stehen im Jahre Null der neuen Moral“.

Die Sorge von Günther Anders gilt daher den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Moral in einer globalen, technisch bedingten Situation der Amoralität. Was dies betrifft, war er im Gegensatz zum verbreiteten Business-Motto „Think positive“ eher pessimistisch.

Auch der aktuelle Philosoph der positiven Lebenskunst, Wilhelm Schmid, sieht mittlerweile eine metaphysische „Epoche der Melancholie“ heraufziehen, verursacht durch das menschengemachte, drohende ökologische Verhängnis auf diesem Planeten: „Der Herbst kehrt ein auf dem Planeten, die Zeit der großen Trauer.“ Es gibt eine Ahnung von heftigen Krisen oder sogar einem möglichen Verschwinden der Menschheit, nicht durch Katastrophen oder Kriege, sondern durch „einen schleichenden und möglicherweise beim besten Willen nicht mehr aufhaltbaren Prozess.“

Wie mit all diesem umgehen?

Günther Anders macht mehrere Vorschläge. Der erste Schritt ist das „Spüren unserer Misere“, um sich dann davon verstören zu lassen und eine belebende, vitale Emotion der Angst zu erzeugen, die zum Einen den politischen Widerstand entzünden und befeuern soll und zum Anderen uns dazu bringen soll, unser menschliches Vermögen des Denkens, Fühlens, Herstellens, Vorstellens etc. wieder zu synchronisieren – damit das prometheische Gefälle eingeholt oder wenigstens verkleinert wird.

Das ist nicht einfach in Zeiten des information overkill. Zwar gilt: Ohne Information keine Opposition zum System. Doch übersteigen „die Portionen, die wir als global informierte in jedem Augenblick zu schlucken haben, den seelischen Fassungsraum, über den wir als Menschen verfügen“. (G. Anders) Wir verlernen, uns auf ein Übel tiefer zu konzentrieren und es anzugehen.

Eine weitere Möglichkeit sieht Anders in der „Redimensionierung“. Großmaschinen gilt es genauso zu verkleinern wie Arbeits- und Produktionsorganisationen, soziale und technische Gebilde sind zudem zu regionalisieren: Es ist die gegenwärtige historische Lage, die uns nahe legt, „dass wir uns die faktisch existierenden Grenzen der menschlichen Natur neu vergegenwärtigen“ (Hannah Arendt) und sie wieder berücksichtigen.

Anders rät in besonderen Fällen durchaus zu praktischen Aktionen wie Produktstreiks (= Verweigerung der Arbeit an der Produktion verwerflicher Güter), auch wenn dies mit persönlichen Nachteilen verbunden ist. Ja, er schlägt auch einen Konsumverzicht vor … und im Fall eines Notstands auch zivilen Ungehorsam bzw. sogar gewalttätigen Widerstand oder wenigstens die Androhung von Gewalt.

Gleichzeitig kritisierte Anders die (gottgegebene) „Generallizenz“ unserer abendländischen Ethik, in der der Mensch die Welt sich untertan machen darf und soll, nicht als Teil der Natur (obwohl auch creatura), sondern als unbeschränkter Herrscher über sie. Der Mensch als Ziel, die Natur als Mittel. Anders widmete sich daher der Frage, was es bedeutet, wenn man nicht an einen Gott und damit an einen von Gott geschaffenen Menschen glaubt. Die Notwendigkeit von Mensch und Welt wird unbegründbar, kein „kosmischer Hahn“ würde nach uns krähen. Ohne Sinn und Auftrag wäre Ethik jetzt ein „utopisches Unternehmen“, und es gäbe keine zeitlos gültige Moral. Warum dann aber noch moralisch handeln?

Der Agnostiker Anders macht zur Maxime, dennoch die Welt zu erhalten, wie sie ist, und damit auch das Menschenleben auf diesem Planeten. Und so kam er zum Schluss: „Sei moralisch!“, obwohl genau das unbegründbar ist. Über diese Inkonsequenz, ja Widersprüchlichkeit seiner Haltung war er sich im Klaren. Er bezeichnete sie als „bewusste Schizophrenie“ und formulierte ein Prinzip Trotz: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht es mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht“.

Aus der Maxime von Anders lässt sich noch ein anderer Ansatz entwickeln, der nicht auf Anders direkt zurückgeht, sich aber auf ihn berufen kann. Es geht tatsächlich um eine Ethik für die technologische Zivilisation, die unser Verhältnis zur Welt als Lebensraum von Mensch, Tier und Pflanze einschließt. In seinem Lehrgedicht Mariechen schildert Anders, warum die Suche nach einem Sinn sinnlos ist und kommt am Ende zum Schluss: „Die Moral ist einfach: Freu Dich“. Dass jede(r) ausgerechnet als er oder sie selbst auf die Welt kommt, das Faktum der Kontingenz, könne man nur mit Humor nehmen. Mit einer Mischung „von Verblüffung und von Freude, Sinn-Verzicht und Herzenswärme, Nihilismus und Vergnügen“.

Das Leben als Geschenk. Die Freude, man selbst zu sein und ausgerechnet ein Mensch (und kein Walfisch etc.). Und gesteht man anderen Lebewesen das gleiche Interesse am eigenen Dasein zu (wie es Anders´ Studienfreund Hans Jonas anerkennt), entsteht eine Ethik der Kontingenz: Der Mensch erkennt das Kollektivschicksal, das er mit allem Seienden teilt: Nämlich jeweils nur einmal und jeweils gerade nur so „da“ zu sein. Verbunden mit einer moralischen Phantasie, die sich in andere Lebensformen und deren Lebensbedingungen sowie die Effekte, die menschliches Handeln auf sie ausübt, eindenken bzw. einfühlen kann.

Das wäre die Grundlage für eine umweltsensible Ethik, in der der Mensch stellvertretend für die Natur nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern die Welt als Ganzes im Blick hat.